Never change a running system!? – Brauchen wir eine neue Lernkultur?

Baden-Württemberg gilt in vielen Bereichen als „Musterländle“ – auch bei der Bildung liegen die Schwaben auf Deutschlands Spitzenpositionen. Umso mehr verwunderte die angestrebten Bildungsreformen der grün-roten Landesregierung im vergangenen Jahr: Die baden-württembergische Regierung um Ministerpräsident Kretschmann will eine neue Lernkultur im „Ländle“ etablieren. Kein Frontalunterricht mehr, die strikte Einteilung von Haupt- und Realschule und Gymnasium wird aufgeweicht. Die Klassen werden heterogener. An die Stelle des klassischen Schulunterrichts tritt selbstständiges – oder im Beamtensprech: „selbstorganisiertes“ – Arbeiten der SchülerInnen in Gruppen. LehrerInnen werden zu „LernbegleiterInnen“, welche die SchülerInnen coachen.

Beitrag 4a

Das (Medien-)Echo auf den Reformvorschlag war vor allem eines: Empörung. BaWü gehört zu Deutschlands Spitzenreitern im Bildungsbereich. Etwas zu ändern, das bereits seit Jahrzehnten sehr gut funktioniert, traf bestenfalls auf Unverständnis. NEVER CHANCE A RUNNING SYSTEM. Studien wurden hervorgezogen, die dem klassischen Frontalunterricht eine höhere Effektivität attestierten. Die FAZ argwöhnte gar, dass sich hinter der „neuen Lernkultur“ eigentlich nur Kürzungsmaßnahmen beim Bildungsetat verstecken:

„Die gemeinsame Beschulung äußerst heterogener Gruppen braucht aber entweder viele gut ausgebildete Lehrer in kleinen Klassen oder die Etablierung des „selbstorganisierten Lernens“, der neuen Zauberformel für „individuelle Förderung“. Nachdem Ministerpräsident Kretschmann 2012 den Abbau von 11 600 Lehrerstellen angekündigt hatte, könnte die gepriesene „Neue Lernkultur“ als schlichte Rationalisierungsmaßnahme verstanden werden“ (Burchardt, 2013).

Dennoch stehen Kretschmann und Co. mit ihren Vorstellungen der neuen Schule nicht alleine da. Auch Thüringen startete mit dem NELECOM-Modell Pilotprojekte, die auf eine ähnliche Lernkultur abzielen.

Die neue Lernkultur

Kern der „neuen Lernkultur“ ist der konstruktivistische Ansatz, welche bereits im ersten Beitrag kurz vorgestellt wurde. Im Konstruktivismus (z. B. Reusser, 2006; Gestenmauer & Mandel, 1995) sollen SchülerInnen individuell nach ihren Fähigkeiten und Wissensstand gefördert werden. Dabei sollen ebenfalls Fähigkeiten wie Kreativität, Eigenständigkeit und Teamfähigkeit ausgebildet werden. Das einseitige Lehrer-Schüler-Verhältnis wird dabei etwas aufgelöst. Die LehrerInnen sind hier weniger lineare Wissensvermittler, sondern Lern-Coaches. Als solche geben sie bei Bedarf Hilfestellungen und Feedback, ansonsten lassen sie den SchülerInnen viel Gestaltungsraum (vgl. Stiller in Landesprogramm Bildung und Gesundheit NRW, o. JG.).

Beitrag 4b

Lernen mit mobilen Endgeräten als selbstbestimmtes Lernen, welches technisch unterstützt von Zeit und Raum unabhängig istwird in diesem Blog nur im Kontext des Konstruktivismus als sinnvoll erachtet. Im klassischen Unterricht lassen sich die mobilen Endgeräte kaum produktiv einsetzen. Als Ersatz für Bleistift und Papier sind sie ungeeignet, da sie zu viel Ablenkungspotenziale mit sich bringen. Außerdem würde der normale Frontalunterricht nicht den vielen Bereichungsmöglichkeiten gerecht, die mobile Endgeräte dem Unterricht bieten.

Dieses konstruktivistische Modell wurde jedoch bereits mehrfach kritisiert. So sollen vom diesem Lernansatz hauptsächlich Schülerinnen profitieren, die bereits gute Leistungen erbringen. Schwächere Schüler würden noch mehr zurückfallen. Andererseits bietet diese neue Lernkultur eine Vielzahl von Vorteilen und Chancen, welche teilweise in der Broschüre des Blogs „Schule im Aufbruch“ (Hüter, Rasfeld & Breidenbach, 2012) aufgeführt werden. iPad-Lehrer André Spang, welchen ich im letzten Beitrag kurz vorstellen durfte, zählte im Interview mit herrlarbig.de (Spang & Larbig, 2011) viele Gründe für den Einsatz von mobilen Endgeräten im Schulunterricht auf.

Zusammengefasst lassen sich folgende Argumente für ein konstruktivistisches Schulmodell und damit den Einsatz mobiler Endgeräten bei der Lehre finden:

  1. Eine veränderte Gesellschaft braucht eine neue Lernkultur: Der Blog „Schule im Aufbruch“ sieht das klassische Schulsystem als Produkt der Industrialisierung. Im 19. Jahrhundert entsprachen Massen- und Allgemeinbildung dem Zeitgeist. Doch die Zeiten der geraden Berufswege sind vorbei, es gibt keine Musterpläne mehr. Die Gesellschaft ist stärker individualisiert. Und entsprechend muss auch die Schulbildung individuell auf die einzelnen SchülerInnen angepasst werden.
  2. Teamworker sind gefragt. Projektarbeiten sind näher am späteren Uni- und Arbeitsalltag als jede andere Unterrichtsform. Es kann nur von Vorteil sein, sich früh entsprechende Kompetenzen wie (Selbst-)Organisation, Kreativität, Teamfähigkeit und Eigenständigkeit anzueignen.
  3. Globales Lernen. Vernetzung wird in einer globalisierten Welt immer wichtiger. Online lassen sich internationale Gemeinschaftsprojekte realisieren, beispielsweise mithilfe von Wikis.
  4. Jugendliche brauchen Medienkompetenz. Wie gestalte ich eine PowerPoint? Wie lege ich ein Wiki an? Wie sieht ein gutes Layout aus? Wie kann ich ein Bild bearbeiten? Wie produziere ich einen qualitativ hochwertigen Beitrag? Viele dieser Kompetenzen werden später von Universitäten und Arbeitsumfeld vorausgesetzt. Darum ist es für Schüler wichtig, sich diese Fähigkeiten möglichst früh anzueignen. Doch nicht nur im produktiven Bereich ist Meidenkompetenz wichtig: Quellenkritik (Stimmt das, was da steht? Wer hat das gesagt?), Grundlagen zu Urheber- und Persönlichkeitsrechten sowie Gefahren und Risken sozialer Medien (Stichwort: Cyber-Mobbing) sollten in einer mediatisierten Welt allen Jugendlichen geläufig sein.
  5. Mobile Endgeräte sind ein Mittel gegen Langeweile im Schulalltag. Handy und Co. können den Unterricht abwechslungsreicher gestalten und so SchülerInnen motivieren, sich intensiver mit einem Themenfeld zu beschäftigen.

Nieder mit dem Frontalunterricht?

Trotz aller Vorteile und Chancen, die mobile Endgeräte und selbstgesteuertes Lernen mit sich bringen: Es ist nicht sinnvoll, das gesamte Schulsystem komplett auf den Kopf zu stellen. Eine Lernkultur, in welcher sich jeder ausschließlich selbstgesteuert und eigenverantwortlich Wissen aneignet, wird genauso wenig erfolgreich sein, wie der reine Frontalunterricht. Hier ist ein Mittelweg zu finden. Festzuhalten bleibt dennoch, dass – erstens – der Einsatz von mobilen Endgeräten viele Vorteile mit sich bringt und – zweitens – in Hinblick auf die Medienkompetenz der SchülerInnen geradezu notwendig erscheint. Ein generelles Handyverbot an Schulen ist jedoch Schwachsinn. Hier werden zu viele Chancen, den Unterricht zu bereichern, ignoriert. zudem hat die Schule einen Bildungsauftrag, der unter anderem beinhalten, die SchülerInnen in die Gesellschaft zu integrieren. Wer in einer mediatisierten Welt Handys und Co. außen vor lässt, verletzt überspitzt gesagt diesen Auftrag.

Und zuletzt: Wo sollen Jugendliche lernen, vernünftig mit den Geräten umzugehen, wenn nicht in der Schule?

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